Gesundheitsbildung

Heiner Barz

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-126

„Gesundheit“ beschreibt einen Zustand des körperlich-geistigen Wohlbefindens und kann als dynamischer Prozess verstanden werden. Dieser wird einerseits von individuellen Prädispositionen, Lebenswelten und Biografien und andererseits von gesellschaftlichen (Gesellschaft) und wirtschaftlichen Gegebenheiten beeinflusst. Auch steht er im Zusammenhang mit dem Lebensalter. G. bezeichnet das „Lernen von Erwachsenen am Thema Gesundheit in Einrichtungen der Erwachsenenbildung“ (Blättner, 1998, S. 17) und somit die organisierte Vermittlung von gesundheitsbezogenen Kompetenzen, um Individuen und Gruppen Handlungsfähigkeit in gesundheitlichen Anliegen zu ermöglichen. G. nimmt Einfluss auf die Gesundheitsvorstellungen der Menschen und eröffnet ihnen die Chance, ihre Lebensbedingungen gesundheitsfördernd zu gestalten. In Abgrenzung zum Begriff „Gesundheitserziehung“ richtet sich G. nicht nur auf eine Verhaltensänderung, sondern zugleich auf die Befähigung, selbstbestimmt zu entscheiden und zu handeln. In der Erwachsenenbildung hat man sich mehr und mehr zugunsten von G. vom Begriff „Gesundheitserziehung“ entfernt, dessen Anwendungsfelder eher im schulischen Bereich liegen.

Unter dem Oberbegriff „Public Health“ haben sich seit einigen Jahrzehnten die Lehre, die Forschung und die Praxis der Förderung, Erhaltung und Wiederherstellung von Gesundheit etabliert. „Gesundheit“ wird dabei sowohl subjektbezogen als auch sozial verstanden. „Public Health“ meint all jene Aktivitäten, die über die individualmedizinische Betrachtung von Gesundheit und Krankheit hinausgehen und sich auf die Gesunderhaltung ganzer Populationen und die dazu notwendigen Maßnahmen in allen wichtigen, also auch nicht-medizinischen Versorgungsbereichen beziehen.

Das Verständnis von G. als Teilbereich der Erwachsenenbildung ist bewusst transdisziplinär ausgerichtet und steht damit freilich in prekären Spannungsverhältnissen der Nähe und Abgrenzung zu Medizin (Hygiene, Gesundheitsförderung, ‐vorsorge), Gesundheitswesen (Krankenkassen), Sport (Vereine, Fitnessstudios), Philosophie und Religion (Ethik, Lebenskunst), sozialen Bewegungen (Alternativszene, Selbsthilfegruppen) und der „Wellness-Industrie“ (private Anbieter, auch Esoterik-Szene).

Quantitativ stellten Angebote der G. in den 1980er und 1990er Jahren einen starken Wachstumsbereich dar. In den 2000er Jahren hat sich die Expansion auf hohem Niveau abgeschwächt (Barz & Hoh, 2018). Nach den Themenbereichen Wirtschaft, Arbeit, Recht (37 %) und Natur, Technik, Computer (21 %) zählen Gesundheit und Sport (18 %) zu den wichtigsten Themenbereichen hinsichtlich der Weiterbildungsaktivitäten, die der Adult Education Survey ausweist (Bezugsjahr 2020; BMBF, 2021, S. 54). Bezogen auf Veranstaltungen mit i. d. R. mehr als drei Veranstaltungsstunden weist die Weiterbildungsstatistik im Verbund (Bezugsjahr 2019; Horn, Lux & Christ, 2021) – eine Zusammenführung der Daten der deutschen Volkshochschulen (vhs), des Bundesarbeitskreises Arbeit und Leben e. V. (BAK AL), der Deutschen Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Erwachsenenbildung e. V. (DEAE) und der Katholischen Erwachsenenbildung Deutschland – Bundesarbeitsgemeinschaft e. V. (KEB) – für den Themenbereich Gesundheit 31,6 % aller Veranstaltungen, 30,1 % aller Teilnahmen und 17,6 % aller Veranstaltungsstunden aus (ebd., S. 72).

Wenn auch unter anderen Oberbegriffen, lässt sich G. der Sache nach weit zurückver­folgen. An vhs stellte sie bereits im Zuge der Lebensreformbewegung Anfang des 20. Jh. ein beachtetes Phänomen dar. Gymnastik und Tanz bspw. bildeten schon in den 1920er und 1930er Jahren wichtige Elemente der Volksbildung (Weiterbildung im Sport) – meist in Verbindung mit politischen und erzieherischen Absichten, deren Ursprung in den sozialen Bewegungen lag (Arbeiter-, Jugend-, Frauenbewegung).

G. ist sowohl ein Teilbereich des Bildungswesens als auch des Sozialwesens und des Gesundheitssystems, wenn Letzteres die staatlichen, öffentlich-rechtlichen und privaten Einrichtungen zusammenfasst, die explizit die Gesundheit der Bevölkerung zu erhalten, zu fördern oder wiederherzustellen beanspruchen. Gesundheitserziehung wurde – nachdem die ursprünglich mit ihr verbundenen sozial-reformerischen Intentionen durch die nationalsozialistische Ideologie eines „gesunden und wehrhaften Volkes“ pervertiert worden waren – seit den 1950er Jahren in der Erwachsenenbildung zunächst als „eine Art Gruppensprechstunde beim Arzt“ (Blättner, 1998, S. 25) praktiziert. Gesundheitserziehung war auf die Vermittlung medizinischer Erkenntnisse reduziert; unterrichtet wurde die „richtige“ Art zu atmen, zu sitzen, sich zu bewegen usw.

Mit der Entwicklung der Industriegesellschaft hatte sich ein vorwiegend naturwissenschaftlich-technischer Krankheitsbegriff etabliert. Gegen die damit verbundene Definitionsmacht der Ärzteschaft entwickelte sich die Gesundheitsbewegung, für die Ivan Illichs Pamphlet gegen die „Enteignung der Gesundheit“ und gegen die „Medikalisierung des Lebens“ eine Art Credo formulierte: „Die Zunft der Ärzte ist zu einer Hauptgefahr für die Gesundheit geworden [...]. In den reichen Ländern hat die medizinische Kolonisierung des Menschen gesundheitsschädigende Ausmaße erreicht“ (Illich, 1975, S. 9).

Verstärkt seit den 1980er Jahren hält ein ganzheitlicher Ansatz Einzug in Theorie und Praxisfelder der G., der um die körperliche und seelische Gesundheit des Menschen zentriert ist. Diese Weiterentwicklung der klassischen Pathogenese (Krankheitsentstehung) vollzieht sich v. a. im Modell der Salutogenese (Gesundheitsentstehung). Der amerikanisch-israelische Medizinsoziologe Aaron Antonovsky (1923–1994) übte damit Kritik an der rein pathogenetisch-kurativen Betrachtungsweise: Fragen nach Wirkfaktoren für Gesundheit und Resilienz haben dabei Vorrang vor der Frage nach den Risikofaktoren. Insb. der Begriff „Resilienz“, also die Fähigkeit, dank Widerstandskraft und Anpassungsfähigkeit auch schwierige Lebenssituationen ohne anhaltende Beeinträchtigung zu überstehen, hat damit hohe Relevanz.

Für Angebote im „informellen Sektor der Gesundheitskultur“ (Andritzky, 1997), aber auch in den etablierten Trägern der Erwachsenen- und Weiterbildung ist die kritische Distanz zum einseitigen naturwissenschaftlichen Wissenschaftsverständnis charakteristisch: Ein verbreitetes Unbehagen am medizinisch-industriellen Komplex, die Suche nach Alternativen zur Schulmedizin, Selbsterfahrungstechniken und neues Körperbewusstsein (Selbsterfahrung – Bewusstseinsbildung) indizieren den Abschied vom linearen Fortschrittsglauben. Ein Beispiel für diesen Sektor ist etwa der Kneipp-Bund e. V., nach eigenen Angaben auf seiner Website „mit seinen 1.200 Kneipp-Vereinen, zertifizierten Einrichtungen und Fachverbänden die größte private deutsche Gesundheitsorganisation“, mit Kursangeboten u. a. zu Qigong, Yoga, Bewegung und Ernährung. Die nationale Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen (NAKOS) veröffentlicht regelmäßig Zahlen und Fakten zur Selbsthilfe in Deutschland. Demnach wächst die Zahl der Selbsthilfegruppen von Jahr zu Jahr: Für 2019 geht man von bis zu 100 Tsd. Selbsthilfegruppen in Deutschland aus – was mindestens eine Verdopplung in den letzten zehn Jahren bedeutet. Das komplementär-medizinisch orientierte Wissenschafts- und Gesundheitsverständnis ist seinerseits inzwischen berechtigter Kritik (z. B. an esoterischer Überspanntheit), aber auch unsachlicher Polemik ausgesetzt (Barz, 2018). Wiederholt sahen sich Erwachsenenbildungsdachverbände veranlasst, hier Stellung zu beziehen (zuletzt: Positionspapier des DVV, 2020). Eine neue Problematik scheint sich dort anzudeuten, wo vermeintlich autonome Patientenselbsthilfegruppen inzwischen gezielt von Lobbyverbänden der Gesundheitsindustrie unterwandert bzw. geschickt instrumentalisiert werden, wie Wittig (2015, S. 53ff.) am Beispiel von
ZERO – The Project to End Prostate Cancer oder der Deutschen Krebsgesellschaft zeigen kann.

Nicht zuletzt die Corona-Krise offenbarte, dass der in den Untersuchungen von Gerd Gigerenzer, Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, seit langem beschriebene Mangel an Risikokompetenz gerade im Gesundheitsbereich fatale Folgen haben kann. Gigerenzer (2014) hat in zahlreichen Erhebungen das fehlende Statistik-Verständnis vieler Mediziner aufgezeigt: „80 % der Mediziner sind statistische Analphabeten.“ Es bleibt eine Bildungsaufgabe, die notwendige Risikokompetenz zu vermitteln, um Nutzen und Schaden gesundheitsbezogener Präventions- und Interventionsangebote, bspw. von Früherkennungsuntersuchungen, richtig einzuschätzen und auch die Marketingstrategien kritisch zu reflektieren, die hier eine wichtige Rolle spielen. Eine wesentliche Unterscheidung betrifft dabei den Begriff „Risiko“. Denn Risiko ist nicht gleich Risiko: Es gibt bekannte Risiken, für die es Eintrittswahrscheinlichkeiten und Rechenmodelle gibt. Im Spielcasino oder in der Autohaftpflichtversicherung lassen sich Gewinnchancen und Verlustrisiko ziemlich genau berechnen. Davon zu unterscheiden sind Situationen der Unsicherheit, wenn es nicht um bekannte, sondern um unbekannte Risiken geht, für die es keine bewährten Algorithmen gibt, wo es nicht nur auf Mathematik, sondern auch auf Intuition und kluge Faustregeln ankommt. Die vernunftgeleitete Unterscheidung dieser beiden Bedeutungsfelder des Begriffs „Risiko“ bleibt für die G. eine Herausforderung (Barz, 2021).

Die große wirtschaftliche Bedeutung des Programmbereichs G. für Erwachsenenbildungseinrichtungen ist oft hervorgehoben worden. Doch auch unter Gesichtspunkten der Bildung bleiben wichtige Aufgaben zu bewältigen. Als Orientierung in der Gemengelage der unterschiedlichen Heilverfahren und Heilslehren hat der ursprünglich für die politische Bildung formulierte „Beutelsbacher Konsens“ erneut Aktualität gewonnen, der zwei Qualitätsmerkmale (Qualität) betonte. (1) Das Kontroversitätsgebot: Was in der Wissenschaft und in der öffentlichen Diskussion kontrovers ist, muss auch in Bildungsveranstaltungen als kontrovers dargestellt werden. (2) Das Überwältigungsverbot: Kursleitende sind zur kritischen Distanz auch gegenüber sich selbst verpflichtet. Subjektive Gewissheiten und/oder persönliche Überzeugungen dürfen nicht als objektive Wahrheiten verkündet werden.

Literatur

Andritzky, W. (1997). Alternative Gesundheitskultur: Eine Bestandsaufnahme mit Teilnehmerbefragung (Reihe Forschungsberichte zur transkulturellen Medizin und Psychotherapie, Bd. 4). Berlin: VWB.

Barz, H. (2018). Inquisition im Namen der Aufklärung. Die Kampagne gegen Komplementärmedizin hat die Volkshochschulen erreicht. weiter bilden, 4, 36–39.

Barz, H. (2021). Lernziel „risk literacy“. Hessische Blätter für Volksbildung, 71(2), 76–84.

Barz, H. & Hoh, R. (2018). Weiterbildung und Gesundheit. In R. Tippelt & A. von Hippel (Hrsg.), Handbuch Erwachsenenbildung/Weiterbildung (Reihe Springer Reference Sozialwissenschaften, 6., überarb. u. akt. Aufl., Bd. 2, S. 1027–1048), Wiesbaden: Springer VS.

Blättner, B. (1998). Gesundheit läßt sich nicht lehren. Professionelles Handeln von KursleiterInnen in der Gesundheitsbildung aus systemisch-konstruktivistischer Sicht (Reihe Theorie und Praxis der Erwachsenenbildung). Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt.

Bundesministerium für Bildung und Forschung. (2021). Weiterbildungsverhalten in Deutschland 2020.
Ergebnisse des Adult Education Survey — AES-Trendbericht
. Berlin: BMBF.

Deutscher Volkshochschul-Verband. (2020). Gesundheitsbildung an Volkshochschulen. Bonn: DVV.

Gigerenzer, G. (2014). Risiko. Wie man die richtigen Entscheidungen trifft. München: C. Bertelsmann.

Horn, H., Lux, T. & Christ, J. (2021). Weiterbildungsstatistik im Verbund – Ergebnisse für das Berichtsjahr 2019 (Reihe DIE Survey. Daten und Berichte zur Weiterbildung, Bd. 11). Bielefeld: wbv Publikation.

Illich, I. (1975). Die Enteignung der Gesundheit. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt.

Wittig, F. (2015). Krank durch Früherkennung. Warum Vorsorgeuntersuchungen unserer Gesundheit oft mehr schaden als nutzen. München: riva.

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