Gesellschaft

Michael Schemmann

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-125

G. gilt als einer der komplexesten Begriffe der Soziologie. In einem ersten definitorischen Zugang lassen sich wenigstens vier Bedeutungen unterscheiden: (1) G. ist eine Bezeichnung für die Verbundenheit von Menschen bzw. für die Menschheit als Ganzes (im Gegensatz zum Tierreich). (2) G. ist ein strukturierter, räumlich abgrenzbarer Zusammenhang zwischen Menschen (z. B. die deutsche G.). (3) G. ist die Bezeichnung der Form des Zusammenlebens von Menschen, die in der historischen Entwicklung den Handlungsrahmen weit über die individuelle Erfahrungswelt hinaus steigert. (4) G. ist ein Zusammenschluss von Menschen in einer Zweckvereinigung, die mitunter rechtsförmig (Rechtsformen von Weiterbildungsorganisationen) ausgestaltet wird (z. B. Aktiengesellschaft, Casino- und Lesegesellschaften in der Weiterbildung).

In der Soziologie wird der Begriff G. als analytische Kategorie durch Ferdinand Tönnies eingeführt. In seiner Arbeit „Gemeinschaft und Gesellschaft“ (1887) untersucht er die Entwicklungen von der ständisch und agrarisch geprägten G. zur modernen Industriegesellschaft. Der Begriff G. markiert dabei einen Gegensatz zu dem der „Gemeinschaft“, der sich durch Eintracht, Homogenität und gegenseitiges Vertrauen auszeichnet. G. geht von einer losen Verknüpfung der Individuen aus, wobei für Tönnies das Für-sich-selbst-tätig-Sein ein wesentliches Kennzeichen darstellt. In Tönnies Begriff der G. ist also der grundständige Wandel von Organisationsformen des Zusammenlebens aufgehoben.

Mit den Arbeiten von Emile Durkheim wird der Begriff G. auch für die Pädagogik relevant. Durkheim (1984) befasst sich mit der Entwicklung von G. und unterscheidet zwei empirisch belegbare Formen: (1) Die segmentierte G. ist in Clans und Horden organisiert, wobei nur geringe Interdependenzen bestehen. Sie ist durch „repressives“ Recht gekennzeichnet. (2) Die arbeitsteilige G. versteht Durkheim als System funktional differenzierter Teile, wobei die Interdependenzen zwischen den Gruppen sehr hoch sind. Kennzeichnend ist hier „restitutives“, d. h. wiederherstellendes Recht. Ausgehend von seinem Grundaxiom, „dass Erziehung eine eminent soziale Angelegenheit ist, und zwar durch ihren Ursprung wie durch ihre Funktionen, und dass folglich die Pädagogik stärker von der Soziologie abhängt als jede andere Wissenschaft“ (ebd., S. 37), untersucht Durkheim das Verhältnis von Erziehung und G.

Mit Blick auf die Änderung der Organisationsformen des Zusammenlebens verweist Schäfers (2018) auf sieben Phänomene, die weltweit beobachtbar und in Teilen immer noch nicht abgeschlossen sind: (1) Trennung von Wohn- und Arbeitsplatz und die Auflösung darauf aufbauender gemeinschaftlicher Beziehungen; (2) Entpersonalisierung von Arbeitsbeziehungen, d. h. die Freisetzung von Einzelnen zu selbstgewählter → ­Arbeit; (3) Veränderungen hinsichtlich sozialer Sicherheit (für Krankheit, Armut, Alter) von persönlich erfahrbaren Formen hin zu abstrakter Solidargemeinschaft (Wohlfahrtsstaat); (4) Urbanisierungsprozesse mit Vereinzelung, aber auch Individualisierung der Lebensweise; (5) Ablösung von ständischen Ordnungsmustern durch einheitliches und auf Gleichheit basierendes Recht; (6) Ausbildung von autonomen gesellschaftlichen Teilbereichen mit einhergehender Ausdifferenzierung von Rollen sowie der Notwendigkeit, diese zu erlernen; (7) Zunahme des Einflusses „gesellschaftlicher Universalien“ (z. B. Geld, Rechtssystem, universalistische Normen) auf Struktur und Entwicklung der G.

Diese strukturtypischen Merkmale kennzeichnen weithin auch das Modell der Industriegesellschaft als Modell der Moderne. Debatten seit Mitte der 1980er Jahre verweisen darauf, dass sich nach dem Übergang von der vormodernen zur modernen G. ein weiterer einschneidender Übergang vollzieht (Modernisierung). Während Theoretiker der Postmoderne einen klaren Bruch mit der Moderne konstatieren und von einer vollständig neuen Ära ausgehen, sehen die Protagonisten der Hochmoderne (Anthony Giddens), der zweiten Moderne (Ulrich Beck) und der fluiden Moderne (Zygmunt Bauman) die derzeitige Phase als Fortsetzung der Moderne. Sie ist so gesehen eher ein konstitutives Element (z. B. der Hochmoderne) als eine trennscharf abzugrenzende Phase.

Die im Folgenden kursorisch dargestellten zeitdiagnostischen Gesellschaftsmodelle stellen Gegenmodelle zur Industriegesellschaft dar. Dabei wurde als Auswahlkriterien heran­gezogen, dass die Modelle über einen längeren Zeitraum in der öffentlichen Wahrnehmung standen bzw. noch stehen und auch in der Weiterbildungsdebatte eine gewisse Resonanz gefunden haben.

Aus der Vielzahl von Varianten der postindustriellen G. lassen sich zwei als besonders einflussreich kennzeichnen:

  1. In der Konzeption von Jean Fourastié rückt die sektorale Entwicklung einer Volkswirtschaft als zentraler Faktor für die gesellschaftliche Entwicklung in den Vordergrund. Die historische Entwicklung einer Volkswirtschaft ist dabei von Schwerpunkten im primären (Rohstoffgewinnung), sodann sekundären (Rohstoffverarbeitung) und schließlich tertiären Sektor (Dienstleistung) gekennzeichnet. Der Übergang zur postindustriellen G. bedeutet Arbeitsplatzverluste im produzierenden Bereich, die zunächst zu erheblichen ökonomischen Ungleichgewichten führen, aber durch den Dienstleistungssektor wieder ausgeglichen werden, da das Bedürfnis nach immateriellen Gütern steigt.
  2. In Daniel Bells Gesellschaftsmodell rückt die zunehmende Bedeutung von Wissen und Bildung in den Blick. Stand in der Industriegesellschaft noch die optimierte Organisation von Maschinen zur Produktion von Gütern im Zentrum, so stellt in der nachindustriellen G. das theoretische Wissen jene Achse dar, an der sich Technologie, Wirtschaftswachstum und Schichtung der G. ausrichten. Damit verschieben sich auch die Koordinaten der Macht: Nicht mehr Kapital-, sondern Informations- und Wissensbesitz sind die neuen Grundlagen. Nico Stehr hat diese Überlegungen aufgegriffen und weiter vertieft. Stehr macht deutlich, dass die gestiegene Bedeutung von Wissen in der sog. Wissensgesellschaft nicht zugleich die unbeschränkte Macht von wissenschaftlichem Wissen bedeutet. Vielmehr erhöhe sich die Unsicherheit und Fragilität sozialen Handelns. In der Weiterbildung ist im Anschluss an u. a. Bells Konzeption insb. die Frage des Wissens und auch der Erwachsenenbildung als Wissen übermittelnde Arbeit thematisiert worden (Nolda, 2001).

Im Blickpunkt von Modellen der Informations- und Kommunikationsgesellschaft stehen weniger Fragen der zunehmenden Bedeutung von Dienstleistungen und Wissen als vielmehr der Ausbreitung von Wissen aller Art (Wissenstransfer – Wissenschaftskommunikation). Dabei avanciert Information zur bestimmenden Größe menschlicher Tätigkeiten in Bereichen der Produktion und des Konsums oder der sozialen und politischen Kontrolle. Die digitale Revolution erlaubt die Integration von verschiedenen Medien und hat Folgen für Medienlandschaften, Bildung, Alltagswelt (Alltag) und v. a. Arbeitswelt, da z. B. räumlich weit voneinander entfernte Arbeitsplätze virtuell miteinander verbunden werden oder Aufgaben in der Arbeitswelt von künstlicher Intelligenz übernommen werden (digitale G.). Damit einher gehen auch neue Ungleichheitsformen zwischen und innerhalb von Gesellschaften. Diese werden nicht zuletzt in der Debatte um den digital divide thematisiert.

Nach Ulrich Beck wird die Industriegesellschaft durch die Risikogesellschaft abgelöst. Dabei wird Risiko in verschiedener Hinsicht zum zentralen Kennzeichen. Mit dem Bedeutungszuwachs von Wissenschaft und Technik entstehen auch neue Risiken, die sich von den früheren unterscheiden. Beck geht dabei nicht davon aus, dass die zeitgenössische Welt mehr Risiken aufweist, allerdings verändert sich im Vergleich zu früheren Gesellschaftstypen ihre Natur. Risiken ergeben sich nun weniger aus Naturkatastrophen, sondern aus der industriellen Produktion. Eine neue Qualität ergibt sich zudem dadurch, dass die Gefahren nicht mehr einzugrenzen sind. An den Szenarien atomarer oder gentechnischer Unfälle wird die räumliche, zeitliche und soziale Entgrenzung der Risiken erkennbar. Auch in der Alltagswelt ergeben sich neue Risiken und Unsicherheiten. Durch Individualisierung und Selbstreflexivität als Kennzeichen der neuen Moderne werden Individuen zunehmend aus den Bindungen an Institutionen (wie Klassen, Geschlechterrollen oder Familien) herausgelöst und sind nun selbst dafür verantwortlich, ihre biografischen Verläufe (Biografie) zu gestalten. In der Weiterbildung hat das Konzept der Risikogesellschaft nachhaltige Resonanz gefunden. Dabei lassen sich nach Kade (2001) zwei Anschlüsse an die Gesellschaftskonzeption unterscheiden: zum einen jenen, der Weiterbildung als Instrument versteht, Problemlösungen bereitzustellen und das Eintreten der möglichen Gefahren zu verhindern; zum anderen jenen, der Weiterbildung als Teil der Risikogesellschaft thematisiert (Gesundheitsbildung).

Bei seinem Modell der Erlebnisgesellschaft nimmt Schulze (1992) Becks Individualisierungstheorem auf und zugleich zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen, dass Individuen nicht mehr zweckrational um die Bewältigung von Lebensumständen kämpfen, sondern vielmehr über Lebenslauf und Lebensstil frei entscheiden (Autonomie). Kennzeichnend sei der Wunsch nach einer Befriedigung eines Lebensgefühls; jedes Individuum sei gezwungen, das Leben zu genießen. Die gesellschaftlichen Auswirkungen ließen sich in vielen Bereichen erkennen, so z. B. im Konsum. Handlungsrelevant sei nun nicht mehr der Gebrauchswert, sondern der Erlebniswert eines Produkts. Dabei wird mithilfe der Milieuforschung und der Lebensstilforschung analysiert, wie Menschen ihre Wirklichkeit interpretieren, mit welchen Symbolen sie Verständigung suchen und welche Gruppen sich bilden. Schulze unterscheidet fünf soziale Milieus: Niveau, Harmonie, Integration, Selbstverwirklichung, Unterhaltung. In der Erwachsenenbildung wurde an andere Milieumodelle (insb. an SINUS) angeschlossen, wobei Fragen des Weiterbildungsmarketings (Marketing) in den Vordergrund gerückt wurden.

Als jüngstes Modell kann schließlich auf die G. der Singularitäten nach Reckwitz (2017) verwiesen werden, weil hier Bildung und Weiterbildung eine wichtige Rolle zukommt. Dabei geht Reckwitz davon aus, dass in der Spätmoderne ein fundamentaler Strukturwandel zu beobachten ist (sozialer Wandel). Dieser sei darauf zurückzuführen, dass die ehedem vorherrschende Logik des Allgemeinen nunmehr durch die Logik des Singulären abgelöst wird. Die Folge sei ein umfassendes Streben nach der Einzigartigkeit und Besonderheit und nicht mehr nach Standardisierung. Im Unterschied zur Individualisierung beschränkt sich die Singularisierung jedoch nicht nur auf die Individuen, sondern schließt auch die Objektwelt, räumliche Einheiten und Orte ein. Aber auch Ereignisse und Kollektive sollen einen Singularitätsanspruch haben. Als Antriebsfaktoren der Singularisierung sieht Reckwitz das Zusammenspiel aus Kulturkapitalismus, digitaler Revolution sowie dem Aufstieg der universitär ausgebildeten neuen Mittelklasse. Zugleich bezeichnet Letztere das Aufbrechen der nivellierten Mittelstandsgesellschaft. Die zentrale Frage ist, ob die Logik des Singulären das Ideal von gesamtgesellschaftlicher Prosperität und Einheit bedroht.

Der Anspruch von Gesellschaftsmodellen ist es, die gegenwärtige G. als Ganze zu kennzeichnen. Die Gesamtheit von Gesellschaftszuständen ist jedoch nicht zu erfassen. Daher müssen sie sich auf die Erfassung von nur bestimmten Phänomenen beschränken, empirische Belege selektiv heranziehen und Befunde bzw. Annahmen überdehnen. In dem Maße, in dem sich möglichst viele Menschen mit ihren Ängsten und Hoffnungen in diesen Deutungen wiederfinden, finden auch die Modelle Anklang. An diesem Punkt können Gesellschaftsmodelle, die auf Problemlagen aufmerksam machen oder neue Interpretationen aufschließen, auch eine gesellschaftliche Wirkung entfalten. Mit Blick auf den Anschluss erziehungswissenschaftlicher Reflexion an Gesellschaftsmodelle ist diese notwendige Verkürzung auf bestimmte Phänomene jedoch in Rechnung zu stellen. Damit ist nicht nur eine, möglicherweise als überlegen erachtete Perspektive in Betracht zu ziehen; vielmehr sind die Befunde zur Bildung Erwachsener vor dem Hintergrund mehrerer Gesellschaftsmodelle zu beleuchten (Wittpoth, 2001).

Literatur

Durkheim, E. (1984). Erziehung, Moral und Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Kade, J. (2001). Risikogesellschaft und riskante Biographien. In J. Wittpoth (Hrsg.), Erwachsenenbildung und Zeitdiagnose. Theoriebeobachtungen (Reihe Theorie und Praxis der Erwachsenenbildung, S. 9–38). Bielefeld: W. Bertelsmann.

Nolda, S. (2001). Das Konzept der Wissensgesellschaft und seine (mögliche) Bedeutung für die Erwachsenenbildung. In J. Wittpoth (Hrsg.), Erwachsenenbildung und Zeitdiagnose. Theoriebeobachtungen (Reihe Theorie und Praxis der Erwachsenenbildung, S. 91–117). Bielefeld: W. Bertelsmann.

Reckwitz, A. (2018). Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Suhrkamp: Berlin.

Schäfers, B. (2018). Gesellschaft. In J. Kopp & A. Steinbach (Hrsg.), Grundbegriffe der Soziologie (12. Aufl., S. 141–145). Wiesbaden: Springer VS.

Schulze, G. (1992). Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt a. M.: Campus.

Tönnies, F. (2005). Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Wittpoth, J. (2001). Zeitdiagnose: nur im Plural. In J. Wittpoth (Hrsg.), Erwachsenenbildung und Zeit­diagnose. Theoriebeobachtungen (Reihe Theorie und Praxis der Erwachsenenbildung, S. 155–178). Bielefeld: W. Bertelsmann.

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