Ulrich Heinemann
DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-124
„Wer nicht Gutes und Böses [...] zusammenschauen kann, der lasse die Geschichte und lese Romane, wo man einander am Ende kriegt.“ Dieser Satz des bekannten Schweizer Historikers Jacob Burckhardt trennt die G. sowohl von der harmonisierenden Mythenbildung als auch von der einseitigen, meist nationalistisch imprägnierten Geschichtsklitterung, wie sie bis in unsere Tage v. a. in autoritär geführten Staaten gang und gäbe ist. „Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen“, dieses Bild des Philosophen Theodor Lessing verdeutlicht den konstruierenden Charakter aller G., die mit ihren Methoden versucht, einer Fülle vergangener, auf den ersten Blick kontingenter Ereignisse, Entwicklungen und Prozesse einen rationalen und plausiblen, v. a. intersubjektiv überprüfbaren, also wissenschaftlichen Kriterien genügenden Sinn abzugewinnen.
Methodische Ausgangspunkte der G. waren und sind Hermeneutik und historisch-philologische Quellenkritik. Das methodologische Spektrum hat sich aber in der Gegenwart durch sozialwissenschaftliche, ethnologische, archäologische, ökonomische, psychologische, statistische, kultur- und naturwissenschaftliche → Forschungsmethoden erweitert, um nur einige der wichtigsten zu nennen. Trotz ihrer mittlerweile gewonnenen Methodenvielfalt äußert sich G. auch heute noch überwiegend in der Form der Narration, der für uns Menschen als Spezies von alters her geläufigsten und attraktivsten Form orientierender Weltdeutung.
Historisch-wissenschaftliches Denken ist insofern speziell, als es um die Perspektivität und (kulturelle) Standortgebundenheit des eigenen Denkens weiß, die Alterität und Einzigartigkeit vergangener Epochen respektiert, die „Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem“ (Ernst Bloch) reflektiert und „historische Fundamentaldimensionen“ (Hans-Ulrich Wehler) wie Herrschaft, Wirtschaft und Kultur kritisch analysiert.
Ihre Fragestellungen bezieht die G. häufig aus aktuellen Orientierungsbedürfnissen. Insofern schreiben die Gegenwart und nicht selten auch Zukunftserwartungen und -befürchtungen die Disziplin ständig mit und um. Letzteres belegen Themen, Inhalte und sog. turns (also spezifische Perspektiven und Paradigmen) der G. Sie reichen längst über die Ereignisgeschichte der Politik und der Nationen, die Geschichte der Wirtschaft, des Sozialen und des → Alltags hinaus, umfassen die regionalen wie die globalen Verflechtungen, die kulturellen wie die Geschlechterbeziehungen, das Klima, die Umwelt und deren Historie sowie nicht zuletzt die Geschichte der Medien, die sich in die Gegenwart der weltweiten Digitalisierung verlängern lässt.
Im Kontext der → Erwachsenen- und Weiterbildung bieten Erkenntnisse und Ergebnisse der G. ein breites Spektrum an Anregungen und erkenntnisleitenden Rückgriffen für die professionelle pädagogische Arbeit (→ Professionalität) in verschiedenen Feldern. So ist sinnvolle erinnerungskulturelle → Jugendbildung und Erwachsenenbildung in Bezug auf den Nationalsozialismus ohne Überblickskenntnisse aktueller Holocaustforschung kaum denkbar. Perspektiven und Paradigmen der allgemeinen G. könnten aber auch die → Geschichte der Erwachsenenbildung befruchten. Beiträge auf diesem Gebiet sind bislang überwiegend institutions- oder organisationsgeschichtlich – was die Frauenbildung anbetrifft, i. d. R. biografisch (→ Biografie) – und nur zu einem kleineren Teil problemgeschichtlich angelegt. Sozial-, kultur- und mentalitätsgeschichtliche Zugänge könnten hier im historischen Längsschnitt neue Einsichten in die Praxen, aber auch in die Folgen gesellschaftlicher bzw. gruppen- oder geschlechtsbezogener Aneignung, Teilung und Nutzung von → Wissen ermöglichen. Speziell für die außerschulische → politische Bildung sind darüber hinaus die Zeitgeschichte als wissenschaftliche Behandlung der „Epoche der Mitlebenden“ (Hans Rothfels) sowie neuerdings die Gegenwartsgeschichte als die Historie der unmittelbaren Vergangenheit elementare bezugswissenschaftliche Größen (→ Bezugswissenschaften).
Literatur
Rüsen, J. (2013). Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft. Wien: Böhlau.
Wehler, H.-U. (1987–2008). Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1700–1990 (5 Bde.). München: C. H. Beck.
Frankopan, P. (2017). Licht aus dem Osten. Eine neue Geschichte der Welt. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt.