Dieter Brinkmann
DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-110
Die F. ist ein Stück individuelle Lebenszeit und zugleich ein gesellschaftliches Verhältnis. Als Lebenszeit erscheint sie unter bestimmten Kriterien quantifizierbar, taucht in kollektiven, aggregierten Bilanzen wie Zeitbudgetstudien auf und kann als Parameter für die Entwicklung des gesellschaftlichen Wohlstands herangezogen werden. Als ein gesellschaftliches Verhältnis unterliegt sie einer Dynamik des → sozialen Wandels und ist mit dem Kampf um selbstbestimmte Lebenszeit verbunden, zugleich aber auch einer kapitalistischen Marktlogik als Konsumzeit unterworfen.
F. ist ein positiv aufgeladener Werteraum, der mit den Konzepten Lebensqualität und Lebensglück verknüpft ist. Typisch ist ein größerer Freiheitsgrad bzw. Gestaltungsspielraum für das eigene Handeln sowie eine expressive Komponente, die in einem bestimmten (F.-)Lebensstil zum Ausdruck kommt. Die soziale Dimension von F. zeigt sich in vielfältigen Formen der Vergemeinschaftung, des freiwilligen Engagements (→ Ehrenamt) und der soziokulturellen Dynamik von Städten und Gemeinden.
Die Entwicklung der modernen F. erschließt ein Stück Kultur- und Sozialgeschichte. In der Auseinandersetzung um freie → Zeit spiegeln sich die Klassenkämpfe des 19. und 20. Jh. mit Acht-Stunden-Tag, freiem Wochenende, bezahltem Urlaub und garantierter Rente. In den sozialwissenschaftlichen Analysen wird die Relativierung der → Arbeit als identitätsstiftender Kern einer → Gesellschaft durch die Zunahme frei verfügbarer Lebenszeit und damit das utopische Moment einer Befreiung von stupider und fremdbestimmter Lohnarbeit betont (Nahrstedt, 1990).
Die Fp. nimmt auf diese Lebenszeit Bezug, sowohl individuell als eine besondere Lernzeit im Kontext des lebenslangen Lernens (→ lifelong learning) als auch institutionell als eine → Profession, die Einrichtungen und Angebote für Sport, Kultur, Geselligkeit und Reisen gestaltet. Für die → Erwachsenen- und Weiterbildung entstehen mit der Expansion der F. neue „Zeitfenster“ für ein organisiertes → Lernen jenseits von Schule und Beruf, aber auch für ein selbstgesteuertes und bisweilen beiläufiges informelles Lernen (→ formale – non-formale – informelle Bildung) in hybriden Settings von F.-Erlebniswelten, verwoben mit den Aktivitäten des → Alltags.
Die Fp. schließt an die Konzepte des Pädagogen Fritz Klatt aus den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts an. Er entwickelte im Rahmen eines Volkshochschulheims (→ Heimvolkshochschulen) in Prerow an der Ostsee einen Raum für eine „schöpferische Pause“ (1921) im Sinne des alten Begriffs „Muße“ und machte Vorschläge für bereichernde Angebote zur „Freizeitgestaltung“ (1929) als Kompensation zur Berufsarbeit.
Typisch sind bestimmte didaktische Modelle (→ Didaktik – Methodik) einer „Pädagogik der freien Lebenszeit“ (Opaschowski, 1996). Dies betrifft einerseits allgemeine Bildungsziele und -inhalte, z. B. im Sinne einer Befähigung zur Freizeitgestaltung und einer Entwicklung vielfältiger individueller Möglichkeiten. Andererseits geht es um bestimmte Lernformen, Prinzipien und freizeitgemäße Settings, die als Ansätze inzwischen in viele andere Teildisziplinen der → Pädagogik eingesickert sind. Informelle Lernmöglichkeiten kennzeichnen zudem viele hybride Freizeitszenarien (z. B. im Kulturtourismus) und haben einen neuen Typ von „erlebnisorientierten Lernorten“ (→ Erlebnispädagogik) mit eigenen didaktischen Zugängen hervorgebracht (Freericks & Brinkmann, 2015).
Der Begriff F. steckt implizit in zahlreichen aktuellen, kritisch-analytischen und programmatischen Ansätzen der Sozialwissenschaft, in soziologischer Szeneforschung ebenso wie in ökonomisch fundierten Berufsfeldanalysen. Die Figur der Freizeitwissenschaft als interdisziplinäre Spektrumswissenschaft (ebd.) versucht als Weiterführung der Fp. die unterschiedlichen Zugänge wieder zusammenzuführen und zu bündeln. Sie bietet damit einen übergreifenden Reflexionsrahmen und eröffnet die Perspektive einer wertorientierten und gegenüber Natur und Gesellschaft verantwortungsvollen und zugleich zukunftsfähigen Freizeitentwicklung.
Literatur
Freericks, R. & Brinkmann, D. (Hrsg.). (2015). Handbuch Freizeitsoziologie. Wiesbaden: Springer.
Klatt, F. (1921). Die schöpferische Pause. Jena: Diederichs.
Klatt, F. (1929). Freizeitgestaltung: Grundsätze und Erfahrungen zur Erziehung des berufsgebundenen Menschen. Stuttgart: Silberburg.
Nahrstedt, W. (1990). Leben in freier Zeit. Grundlagen und Aufgaben der Freizeitpädagogik. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
Opaschowski, H. W. (1996). Pädagogik der freien Lebenszeit (Reihe Freizeit- und Tourismusstudien, Bd. 1, 3., überarb. Aufl.). Wiesbaden: Springer VS.