Josef Schrader
DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-108
F. sind Verfahren zur Erhebung, Analyse und Interpretation von Daten, die der Beantwortung wissenschaftlicher Fragen dienen. In der empirischen → Bildungsforschung richten sich solche Fragen auf die Voraussetzungen, Verläufe und Ergebnisse von Lern- und Bildungsprozessen im Lebenslauf, mit pädagogischer oder ohne pädagogische Begleitung (Prenzel, 2005, S. 12). Empirische Forschung stützt sich auf Beobachtungen der Bildungsrealität. Der Begriff wird hier in einem weiten Sinn verstanden; im Kern geht es um die Zuweisung von Zeichen (z. B. hohe oder geringe Weiterbildungsmotivation) oder Zahlen (z. B. Anzahl der Weiterbildungsteilnahmen) zu beobachteten Phänomenen. Mithilfe welcher „Operationen“ solche Zuweisungen erfolgen und welche Aussagen sich darauf stützen lassen, ist Gegenstand der Diskussion um F.
Die Darstellung von F. in Handbüchern oder Überblicksbeiträgen folgt zumeist der Unterscheidung qualitativer und quantitativer Forschung. Für diese Unterscheidung werden oft wissenschaftstheoretische Begründungen angeführt, z. B. jene von Wilhelm Dilthey (1962 [1883]), der die → Pädagogik als Geisteswissenschaft begründete und von der Naturwissenschaft abgrenzte; sie sei eine reflexive Instanz gegenüber der Bildungspraxis und interessiert am Verstehen, nicht am Erklären von Sinn und Bedeutung menschlichen Handelns. Die folgende Darstellung schließt an diese Unterscheidung an, stellt sie aber in einen erweiterten Zusammenhang. Im Forschungsprozess, der eine eigene soziale Praxis darstellt, werden bei der Entdeckung und Begründung von Fragestellungen, der Entwicklung von Untersuchungsdesigns, der Generierung und Interpretation empirischer Daten sowie der Verwertung erarbeiteter Befunde Entscheidungen über F. getroffen.
Bereits in der Phase, in der Forschungsfragen entdeckt und begründet werden, erfolgen Vorentscheidungen über F. So ist es folgenreich, welche Fragen gestellt werden, welche Rolle dabei der Forschungsstand oder theoretische Annahmen, berufliche Beobachtungen und Interessen sowie Erwartungen von Politik und Praxis spielen, schließlich, welche Art von → Wissen man generieren und wen man damit erreichen möchte. Explizit um F. geht es dann, wenn über die Generierung und Interpretation von Daten entschieden wird. In der qualitativen Forschung wird häufig betont, dass F. ihrem Gegenstand angemessen sein müssen. Demgegenüber geht man in der quantitativen Forschung eher davon aus, dass F. geeignet sein müssen, Fragen zu beantworten, die Forschende dem Gegenstand stellen. Damit gehen teils unterschiedliche, teils vergleichbare Gütekriterien für die Verwendung von F. einher: Transparenz, Intersubjektivität, kommunikative Validierung und Reichweite (theoretischer Annahmen) in der qualitativen Forschung, Objektivität, Reliabilität, Validität und Repräsentativität von Messungen in der quantitativen Forschung. Die Gütekriterien beziehen sich jeweils auf die Erhebung, die Aufbereitung und die Interpretation von Daten.
Die dynamische Entwicklung sowohl im Bereich der qualitativen als auch der quantitativen Forschung hat zu einem großen Repertoire an F. geführt. An dieser Stelle kann weder die Vielfalt der methodischen Ansätze innerhalb der qualitativen und der quantitativen Bildungsforschung vorgestellt werden noch eine summarische Bewertung ihrer Forschungsleistungen. Dazu liegen fundierte und aktuelle Überblicksbeiträge vor, teils mit einem Schwerpunkt in der Erwachsenen- und Weiterbildung (z. B. Eckert, 2018; Nuissl, 2018; Schäffer & Dörner, 2018), teils weiter gefasst (Nagengast & Rose, 2018; Nittel, 2018).
Nittel (2018) erinnert an die Ursprünge qualitativer Forschung, auch in der geisteswissenschaftlichen Pädagogik, überwiegend aber in der Sozialforschung: in der Wissenssoziologie, in der → Phänomenologie, im amerikanischen Pragmatismus, im → Symbolischen Interaktionismus und in der die Chicagoer Schule der Soziologie. Um nicht einzelne Erhebungs- und Auswertungsverfahren (z. B. Interviews, Diskursanalysen) einfach aufzulisten, ordnet Nittel qualitative F. nach „Schulen“ (Objektive Hermeneutik; Grounded Theory; Qualitative Inhaltsanalyse; Dokumentarische Methode) und „forschungspraktischen Zugängen“ (Ethnografie; Diskursanalyse; Interaktions- und Konversationsanalyse; erziehungswissenschaftliche Videografie; Dokumenten- und Bildanalyse; erziehungswissenschaftiche und bildungssoziologische Biografieforschung). Schulen und Zugänge stehen für Nittel in einem nur losen Zusammenhang. Eine Gemeinsamkeit qualitativer F. liege in der Wertschätzung der Abduktion als Mittel der Generierung neuer Erkenntnisse, die eine emergente, d. h. nicht methodisierbare Leistung darstelle.
Wie Nittel beschreiben auch Schäffer und Dörner (2018) die Gegenstandsbereiche qualitativer Forschung als vielfältig. Dazu gehören der → Lebenslauf, die → Biografie, die → Sozialisation im Erwachsenenalter, das Lernen und die Wissensaneignung in Milieus (→ Milieuforschung), → Generationen, → Institutionen der Weiterbildung und → Organisationen oder das Lernen mit → Medien. Weitere Anwendungsbereiche bieten die Professions-, Gender- und Beratungsforschung oder die Forschung zum Weiterbildungsmanagement (→ Bildungsmanagement), zur Bedeutung von Gefühlen und → Emotionen in Lehr-Lern-Prozessen oder zum informellen Lernen. Schäffer und Dörner betonen, dass die Entscheidung für F. methodologisch begründet werden sollte, was noch zu selten geschehe. Dies sei möglich, wenn Gegenstands- und Grundlagentheorien miteinander verknüpft werden, z. B. Theorien zu Biografie und Sozialisation mit Theorien des Sozialen bzw. der sozialen Wirklichkeit (z. B. Habitustheorie oder Systemtheorie).
Auch die Gegenstandsbereiche quantitativer Forschung sind vielfältig, aber anders gelagert als in der qualitativen Forschung. Eckert (2018) sieht Schwerpunkte in der → Teilnahme an Erwachsenen- und Weiterbildung, bei den → Kompetenzen Erwachsener und deren Entwicklung sowie bei der Plastizität kognitiver Leistungsfähigkeit (→ Kognition). Der Fokus ist wie in der qualitativen Forschung nicht allein auf das organisierte Lernen Erwachsener gerichtet, sondern schließt das informelle und das selbstgesteuerte Lernen ein. Typische Methoden für die Datenerhebung sind Surveystudien zur Weiterbildungsbeteiligung (z. B. der Adult Education Survey), Large-Scale-Studien (z. B. die LEO- oder die PIAAC-Studie) zu (schriftsprachlichen) Kompetenzen, Längsschnittstudien (z. B. auf der Basis der Daten des Nationalen Bildungspanels oder des Sozioökonomischen Panels) zum Stellenwert von Weiterbildung im → Lebenslauf, quasi-experimentelle oder experimentelle Feld- und Laborstudien (gestützt auf die Selbst- oder Fremd- bzw. die randomisierte Zuweisung von Personen und Objekten zu Untersuchungsbedingungen), bspw. zur Föderung professioneller Kompetenzen des pädagogischen Personals (→ Professionalität) durch die Arbeit mit Videofällen. Neben der Erhebung eigener Daten haben in den letzten Jahren auch Reanalysen vohandener Daten der Bildungs- und Sozialberichterrstattung an Bedeutung gewonnen (→ Bildungsberichterstattung). Die Stichprobenumfänge erreichen nicht selten einige tausend, in Datensätzen der Sozialberichterstattung auch einige hunderttausend Fälle. Die Reanalyse solcher Datensätze lässt sich z. B. nutzen, um die Effekte sozioökonomischer Rahmenbedingungen und bildungspolitischer Interventionen auf die Weiterbildungsbeteiligung oder auf monetäre und nicht-monetärer → Erträge von Erwachsenen- und Weiterbildung mithilfe ökonometrischer Verfahren zu schätzen.
Quantitative F. wurden in den vergangenen Jahren kontinuierlich weiterentwickelt, um die Erhebung und Interpretation von Daten zu verbessern. Fortschritte zeigen sich u. a. bei der Validität und Reliabilität der Messung von nicht direkt beobachtbaren Variablen wie Kompetenzen, bei der Berücksichtigung der Mehrebenenstruktur von Datensätzen (z. B. Teilnehmende in Kursen in Einrichtungen), zum Umgang mit den Herausforderungen des kausalen Schließens oder bei der Imputation fehlender Werte (Nagengast & Rose, 2018).
Auch für den Verwendungszusammenhang von → Forschung sind F. von großer Bedeutung. Hier geht es um die Reichweite und Verallgemeinerbarkeit von Aussagen aus empirischen Studien zum einen, um ihre Anschlussfähigkeit an und ihre Zumutbarkeit für Politik und Praxis zum anderen. Grundsätzlich gilt, dass sowohl das Beschreibungs-, das Erklärungs- als auch das Veränderungswissen „steuerungsrelevant“ sein können: als Hinweise auf andauernde oder neue Herausforderungen, zur Identifikation wirksamer pädagogischer Einflussfaktoren oder zur Schaffung von Bedingungen, unter denen Verbesserungen wahrscheinlicher werden. Unter welchen personalen, organisationalen und institutionellen Bedingungen ein Transfer von Forschungs- in Handlungswissen allerdings gelingen kann, ist noch kaum untersucht und wird als eine zentrale Herausforderung gesehen (Schrader et al., 2020).
Die Zunahme empirischer Forschung in der Erwachsenen- und Weiterbildung, die Weiterentwicklung des Repertoires an qualitativen und quantitativen F. und das gestiegene methodologische Problembewusstsein lassen sich als Resultat einer verbesserten Methodenausbildung in Studiengängen sowie einer Ausweitung des Angebots an Fortbildung und Beratung interpretieren. Forschung zur Erwachsenen- und Weiterbildung (→ Weiterbildungsforschung) nutzt die gesamte Breite an qualitativen und quantitativen F., die auch in anderen Bereichen der Bildungsforschung üblich ist. Insgesamt überwiegen qualitative F. – national wie international. Häufiger genutzt werden inzwischen Mixed-Method-Designs, wie dies bereits früh in der „Göttinger Studie“ zum Zusammenhang von Bildungs- und Gesellschaftsvorstellungen und Weiterbildungsbeteiligung geschah. Oft werden Mixed-Method-Designs mit der Möglichkeit der Triangulation begründet – im Sinne eines Phasenmodells, der Ergänzung und Vertiefung von Interpretationen oder der Steigerung der Validität von Befunden.
Mit der Expansion empirischer Forschung droht allerdings auch ihre weitere Zersplitterung. Ein aktualisiertes Forschungsmemorandum (Arnold et al., 2000) könnte dem entgegenwirken. Weitere Herausforderungen ergeben sich aus der gestiegenen Erwartung an Forschung, empirische Belege für ihre gesellschaftliche Relevanz zu erbringen. Zudem wird verstärkt die Offenheit von Forschung eingefordert, z. B. die Bereitstellung von Daten für Nachnutzung und Replikation oder auch die Offenlegung statistischer Analysen. Schließlich gewinnt die Diskussion um ethische Standards der empirischen Forschung an Bedeutung (→ Ethik), vorangetrieben durch Fachgesellschaften und Drittmittelgeber wie die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG); das betrifft u. a. Fragen des Datenschutzes und der informierten Zustimmung der Beobachteten zu Erhebung und Verwendung der von ihnen bereitgestellten Daten. Insgesamt steigen damit die Erwartungen an die Qualität der Begründung von Entscheidungen, die im Forschungsprozess getroffen werden. Das lässt erwarten, dass die Entwicklung von F. weiter voranschreiten wird.
Literatur
Arnold, R., Faulstich, P., Mader, W., Nuissl, E. & Schlutz, E. (Hrsg.). (2000). Forschungsmemorandum für die Erwachsenen- und Weiterbildung (i. A. der Sektion Erwachsenenbildung der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft). Frankfurt a. M.: DIE.
Dilthey, W. (1962 [1883]). Einleitung in die Geisteswissenschaften. Stuttgart: Teubner, Vandenhoeck &
Ruprecht.
Eckert, T. (2018). Methoden und Ergebnisse der quantitativ orientierten Erwachsenenbildungsforschung. In R. Tippelt & A. von Hippel (Hrsg.), Handbuch Erwachsenenbildung/Weiterbildung (Reihe Springer
Reference Sozialwissenschaften, 6., überarb. u. akt. Aufl., Bd. 1, S. 375–396). Wiesbaden: Springer VS.
Nagengast, B. & Rose, N. (2018). Quantitative Bildungsforschung und Assessments. In R. Tippelt &
B. Schmidt-Hertha (Hrsg.), Handbuch Bildungsforschung (4., überarb. u. akt. Aufl., S. 669–688). Wiesbaden: Springer VS.
Nittel, D. (2018). Qualitative Bildungsforschung. In R. Tippelt & B. Schmidt-Hertha (Hrsg.), Handbuch Bildungsforschung (4., überarb. u. akt. Aufl., S. 689–713). Wiesbaden: Springer VS.
Nuissl, E. (2018). Weiterbildung/Erwachsenenbildung. In R. Tippelt & B. Schmidt-Hertha (Hrsg.), Handbuch Bildungsforschung (4., überarb. u. akt. Aufl., S. 485–505). Wiesbaden: Springer VS.
Prenzel, M. (2005). Zur Situation der Empirischen Bildungsforschung. In H. Mandl & B. Kopp (Hrsg.), Impulse für die Bildungsforschung. Dokumentation eines Expertengesprächs (hrsg. v. d. Deutschen Forschungsgemeinschaft, S. 7–21). Berlin: Akademie Verlag.
Schäffer, B. & Dörner, O. (2018). Qualitative Erwachsenenbildungsforschung. In R. Tippelt & A. von Hippel (Hrsg.), Handbuch Erwachsenenbildung/Weiterbildung (Reihe Springer Reference Sozialwissenschaften, 6., überarb. u. akt. Aufl., Bd. 1, S. 355–373). Wiesbaden: Springer VS.
Schrader, J., Hasselhorn, M., Hetfleisch, P. & Goeze, A. (2020). Stichwortbeitrag Implementationsforschung: Wie Wissenschaft zu Verbesserungen im Bildungssystem beitragen kann. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 23(1), 9–59.