Christine Zeuner
DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-093
E. L. ist ein didaktisch-methodisches Prinzip und wurde in den 1950er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland zunächst für den → Unterricht in Schulen und für universitäre Studiengänge diskutiert. Die dort in → Curricula festgelegten Inhalte wurden in ihrer Stofffülle infrage gestellt, da sie eine weitgehend unreflektierte Wissensaneignung verlangten. Dies führte bei den → Lernenden eher zu einer Verflachung des → Wissens als zu der Fähigkeit, Erkenntnisse zu formulieren, grundlegende Prinzipien und Zusammenhänge einzelner Wissensgebiete zu erkennen, zu beurteilen und auf andere Sachverhalte zu übertragen – also zu Bildungsprozessen beizutragen. In den 1960er Jahren wurden grundlegende Ideen des Prinzips e. L. für die politische → Arbeiterbildung und die → Erwachsenen- und Weiterbildung weiterentwickelt.
Ein früher Vertreter war der Physiker und Pädagoge Martin Wagenschein (1896–1988), der das Konzept des exemplarischen Lernens und Lehrens sowohl für den Physikunterricht als auch für andere Fächer entwickelte. Sein Ziel war es, ausgehend von den → Erfahrungen und dem Verstehenshorizont der Lernenden, thematisch fokussierte Zugänge sowie → Inhalte und Themen so aufzubereiten, dass die daraus zu ziehenden Erkenntnisse beispielhaft auch auf andere Themen und Zusammenhänge übertragen werden können.
Damit die Auswahl eines Themenfelds als exemplarisch gelten kann, sollte es bestimmte Eigenschaften in sich tragen. Der Erziehungswissenschaftler Wolfgang Klafki (1927–2016) entwickelte in seiner kritisch-konstruktiven Didaktik (1996, S. 270–284) Wagenscheins Gedanken weiter und formulierte mit der „didaktischen Analyse“ Vorschläge zur Auswahl exemplarischer Themen im Sinne von epochaltypischen Schlüsselproblemen (→ Didaktik – Methodik). Ein Thema solle nach den folgenden Kriterien geprüft und ausgewählt werden: Gegenwartsbedeutung, Zukunftsbedeutung, Sachstruktur, exemplarische Bedeutung, Zugänglichkeit für die Lernenden.
Die Idee des exemplarischen Lernens wurde in den 1960er Jahren in die Konzeption für eine kritisch-emanzipative politische Arbeiterbildung und die → gewerkschaftliche Bildungsarbeit integriert. Als Gegenentwurf zu bis dahin dominierenden Ansätzen gewerkschaftlicher Funktionärsbildung sollte die Arbeiterschaft insgesamt angesprochen werden. Ziel war es, in der gewerkschaftlichen und der politischen Bildungsarbeit eine soziologische und politisch fundierte wissenschaftliche Grundausbildung durchzusetzen (Burggraf, Kolbe & Zeuner, 2014).
Öffentlich zur Diskussion gestellt wurde das Konzept in der 1968 erschienenen und mehrfach aufgelegten Schrift des Soziologen und Philosophen Oskar Negt (*1934) „Soziologische Phantasie und Exemplarisches Lernen. Zur Theorie und Praxis der Arbeiterbildung“ (Negt, 2016 [1975]). Arbeiterbildung sollte hiernach an den unmittelbaren Erfahrungen der Arbeiterschaft und ihren → Organisationen ansetzen und exemplarisch soziale Konflikte auf ihre klassenspezifisch formierten Gefühls-, Denk- und Sprachstrukturen hin analysieren. Die Konflikte sollten unter historischen und sozioökonomischen Gesichtspunkten entfaltet werden.
Ziel war es, reflektierende und ästhetische Urteilskraft auszubilden, die Menschen dazu befähigt, aus dem Besonderen das Allgemeine zu erklären. „Soziologische Phantasie”, ein Begriff, den Negt bei dem amerikanischen Soziologen C. Wright Mills entlehnte, gilt als soziologische Denkweise, die Lernende dabei unterstützt, strukturelle Zusammenhänge zwischen der individuellen Lebensgeschichte (→ Lebenslauf), den unmittelbaren Interessen und Wünschen, Perspektiven und Hoffnungen zu erkennen und diese im Kontext ihrer soziologischen, historischen und gesellschaftlichen Bedingungen zu diskutieren und zu reflektieren. Über die Entwicklung von Kritik- und Urteilsfähigkeit soll gesellschaftspolitisches Handeln angeregt werden, das utopisches Potenzial aufnimmt und zu konkreten Veränderungen führt.
Grundlegende Ideen des Konzepts Soziologische Phantasie und des methodisch-didaktischen Prinzips e. L. wurden in der → politischen Bildung diskutiert und teilweise für die Praxis weiterentwickelt. Politische Bildung setzt sich mit zentralen Kategorien wie Konflikt, Macht, Interessen, Öffentlichkeit, Ideologie, Geschichtlichkeit, Konkurrenz, Markt usw. auseinander und behandelt exemplarisch gesellschaftliche Schlüsselprobleme. Ziel ist es bis heute, über gesellschaftliche Konflikte, Interessensgegensätze und strukturelle Widersprüche im Kontext von Macht- und Herrschaftsansprüchen aufzuklären und die Gesellschaftsmitglieder zur Kritik- und Urteilsfähigkeit zu befähigen.
Literatur
Brock, A., Hindrichs, W., Müller, H.-D. & Negt, O. (Hrsg.). (1986). Lernen und Verändern. Zur soziologischen Phantasie und exemplarischen Lernen in der Arbeiterbildung. Marburg: Schüren.
Burggraf, D., Kolbe, H. & Zeuner, C. (Hrsg.). (2014). 50 Jahre ‚Soziologische Phantasie und Exemplarisches Lernen’. Tagungsband emanzipative politische Bildung. Dokumentation der Fachtagung vom 24. bis 26. Januar 2013 in Hustedt (Reihe Hustedter Beiträge zur politischen Bildung, Bd. 1). Norderstedt: BoD.
Klafki, W. (1996). Zur Unterrichtsplanung im Sinne kritisch-konstruktiver Didaktik. In W. Klafki (Hrsg.), Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Zeitgemäße Allgemeinbildung und kritisch-konstruktive Didaktik (6. Aufl., S. 251–284). Weinheim: Beltz.
Negt, O. (2016 [1975]). Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen. Zur Theorie und Praxis der Arbeiterbildung. Göttingen: Steidl.