Christoph Jost
DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-082
Für den Begriff „Entwicklungsländer“, der in Deutschland seit den 1950er Jahren verwendet wird, gibt es keine einheitliche Definition. Die meisten sog. Entwicklungsländer weisen jedoch gemeinsame Merkmale in unterschiedlicher Ausprägung auf. Hierzu gehören eine schlechte Versorgung breiter Bevölkerungsschichten mit Nahrungsmitteln, ein niedriges Pro-Kopf-Einkommen, eine mangelhafte Gesundheitsversorgung, eine hohe Kindersterblichkeitsrate, eine geringe Lebenserwartung, eine hohe Arbeitslosigkeit, ein niedriger Lebensstandard, eine oft extrem ungleiche Verteilung der vorhandenen Güter und – nicht zuletzt – mangelhafte Bildungsmöglichkeiten und eine hohe Quote an Analphabetismus (BMZ, 2022). Für die Klassifizierung der Entwicklungsländer findet i. d. R. die entsprechende Liste des Entwicklungsausschusses (Development Assistance Committee, DAC) der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (→ Organisation for Economic Co-operation and Development, OECD) Anwendung. Für das Berichtsjahr 2021 werden insgesamt 127 Staaten gelistet, wobei die mit Abstand höchste Anzahl auf dem afrikanischen Kontinent liegen.
Auch für den Begriff „Schwellenländer“ gibt es keine eindeutige internationale Definition. Sog. Schwellenländer befinden sich zumeist in einem Wandlungs- oder Transformationsprozess mit oftmals hohem Wachstum der wirtschaftlichen Leistung und des Pro-Kopf-Einkommens. Die soziale Entwicklung in Feldern wie Gesundheit, Bildung, Energie- und Wasserversorgung kann jedoch häufig nicht mit dem wirtschaftlichen Wachstum mithalten (BMZ, 2022). Schwellenländer werden daher auch in der OECD-DAC-Liste der Entwicklungsländer geführt. Bekannte Schwellenländer sind u. a. Brasilien, Mexiko, Südafrika und Indien.
Aufgrund der vielfältigen und regional unterschiedlichen Herausforderungen sowie verschiedener politischer Prioritäten und Traditionen gibt es auch keinen einheitlichen Begriff für „Erwachsenenbildung“ in diesem Kontext. Auf globaler Ebene setzt sich zunehmend der von der UNESCO etablierte Begriff „Adult Learning and Education (ALE)“ durch. Dieser findet sich auch in der UNESCO-Empfehlung zu Lernen und Bildung im Erwachsenenalter „Recommendation on Adult Learning and Education (RALE)“, in der Erwachsenenbildung als wesentlicher Bestandteil des lebenslangen Lernens (→ lifelong learning) verstanden wird und drei Themenfelder des → Lernens und des Kompetenzerwerbs (→ Kompetenz) definiert werden: → Alphabetisierung und Grundbildung, Weiterbildung und berufliche Entwicklung sowie Bildungs- und Lernmöglichkeiten für eine aktive Bürgergesellschaft (→ bürgerschaftliches Lernen), die auch als „gesellschaftspolitische Weiterbildung“ bezeichnet werden kann (UNESCO, 2015).
Das Bildungsziel der Agenda 2030 der Vereinten Nationen (Sustainable Development Goal 4) sieht vor, für alle Menschen inklusive, chancengerechte und hochwertige → Bildung sicherzustellen. Während bei den bis 2015 gültigen Millenniumszielen der Fokus ausschließlich auf Verbesserungen in der Grundschulbildung lag, untermauert die Agenda 2030 dank ihrer expliziten Nennung des Konzepts des Lebenslangen Lernens den Bedeutungszuwachs eines ganzheitlichen Bildungsverständnisses und bisher vernachlässigter Bereiche wie den der Erwachsenenbildung.
Viele Regierungen in E.- u. S. reduzieren die Erwachsenenbildung auf die Kompensation von Defiziten im formalen System der schulischen und beruflichen Bildung (→ Berufsbildung), auch weil der Bildungsbereich häufig unterfinanziert ist. Daher wird oftmals zentralen Themen der allgemeinen und non-formalen Weiterbildung staatlicherseits wenig Aufmerksamkeit geschenkt und dieses Feld zivilgesellschaftlichen Akteuren überlassen (Gartenschlaeger & Jost, 2019).
Mangelnde Grundbildung sowie primärer und funktionaler Analphabetismus bleiben gravierende Entwicklungshindernisse. Über 50 Mio. Kinder besuchten 2019 entweder gar keine Schule oder beendeten diese ohne formalen Abschluss; weit mehr litten unter Zugangsproblemen, unzureichender Bildungsqualität und Lehrermangel. Gemäß Weltbildungsbericht für das Jahr 2019 lagen im weltweiten Durchschnitt die Abschlussraten der Primarstufe bei 85 Prozent, in der unteren Sekundarstufe bei 73 Prozent und in der oberen Sekundarstufe bei 49 Prozent. Hierbei gibt es deutliche regionale Unterschiede. In Subsahara-Afrika schließen nur 64 Prozent die Primarstufe ab, 37 Prozent die untere und 27 Prozent die obere Sekundarstufe. Die Vergleichszahlen für Europa und Nordamerika liegen hingegen bei 99, 98 und 87 Prozent (UNESCO, 2018). Die weltweite Anzahl der erwachsenen Analphabetinnen und Analphabeten ist mit über 750 Mio. alarmierend hoch. Am stärksten betroffen sind die Regionen Subsahara-Afrika und Südasien, wo im Schnitt nur 65 bzw. 72 Prozent als alphabetisiert gelten. Bei den Frauen sind die Quoten mit 57 Prozent in Subsahara-Afrika und 63 Prozent in Südasien noch dramatischer. Die Zahlen sind insb. in Hinblick auf Entwicklungs- und Schwellenländer besorgniserregend, da → Literalität und Numeralität eine zentrale Grundlage für Armutsreduzierung und Entwicklung sind.
Die weltweite Arbeitslosigkeit wird auf knapp 200 Mio. Menschen geschätzt; deutlich mehr arbeiten unter prekären Bedingungen. In vielen E.- u. S. gibt es sich gegenseitig verstärkende strukturelle Schwierigkeiten. Erschwerte Bildungszugänge und mangelnde berufliche Ausbildungsmöglichkeiten treffen auf eine lokal schwach ausgeprägte Privatwirtschaft, die kaum Jobchancen bietet. Ungelernte Beschäftigungen mit geringen Einkommen in der informellen Wirtschaft sind oft die Folge. In Lateinamerika arbeiten mehr als die Hälfte der Menschen im informellen Sektor, in Süd- und Südostasien sind es rund 70 Prozent und in Subsahara-Afrika sogar bis zu 90 Prozent der Erwerbsbevölkerung (DVV International, 2017).
Ein duales Ausbildungssystem nach deutschem Vorbild gibt es in E.- u. S. nicht. Berufliche Qualifizierungen (→ Qualifikation) in handwerklichen oder technischen Berufen haben oft eine deutlich kürzere Laufzeit und sind – je nach Land und Region – nicht immer zertifiziert (→ Zertifikate – Abschlüsse) bzw. staatlich anerkannt (→ Anerkennung – Validierung). In den ärmsten Ländern werden arbeitsbezogene Weiterbildungsangebote unmittelbar an den Grundbedürfnissen und Lebensrealitäten ausgerichtet und sind oftmals als einkommensschaffende Maßnahmen konzipiert. Dies umfasst u. a. Schulungen zu landwirtschaftlichen Produktions-, Ernte- und Lagertechniken oder Kurse zur Existenzgründung und Vermarktung im Kleingewerbe. Häufig kommen hierbei integrierte Alphabetisierungsansätze zur Anwendung, die zielgerichtete Kenntnisse im Lesen, Schreiben und Rechnen vermitteln (→ Literalität – Numeralität), welche im unmittelbaren Zusammenhang mit Verbesserungen der Einkommenssituation der Menschen stehen. Die → berufliche Weiterbildung umfasst auch die Vermittlung von → Schlüsselqualifikationen wie Computer- und IT-Kenntnisse, → Sprachen sowie Kommunikations- und Bewerbungstrainings, um die Beschäftigungsfähigkeit (Employability) der Menschen zu erhöhen.
In vielen E.- u. S. bieten v. a. zivilgesellschaftliche Akteure Lernmöglichkeiten für eine aktive Bürgergesellschaft an. Sie nutzen dabei Ansätze des Empowerments, um benachteiligten Bevölkerungsgruppen mehr Teilhabemöglichkeiten zu eröffnen und einen Beitrag zur Umsetzung der Menschenrechte zu leisten. Dies erfolgt, oftmals in Anlehnung an die „Pädagogik der Befreiung“ von Paulo Freire, mittels partizipativer Ansätze, die kritisches Denken und Reflexion fördern und eine → handlungsorientierte Didaktik nutzen, und anhand von Themen, welche die Lernbedürfnisse der Menschen aufgreifen (→ generative Themen). Solche Maßnahmen tragen nicht nur zur → Persönlichkeitsbildung, sondern auch zur gesellschaftlichen Entwicklung, zur Demokratiestärkung und zum Aufbau von Planungskapazitäten auf lokaler Ebene bei.
In krisenbehafteten Ländern kommen in der Praxis der Erwachsenenbildung friedenspädagogische Ansätze zur Prävention und Nachsorge von Konflikten und Extremismus zum Einsatz. Weitere wichtige Entwicklungsfelder sind Geschlechtergerechtigkeit (→ Gender in der Erwachsenenbildung), Gesundheit (→ Gesundheitsbildung), → Migration, Digitalisierung, Umwelt und Klimawandel (→ Umweltbildung). Insgesamt leistet die Erwachsenenbildung damit auch zentrale Beiträge zur Bewältigung globaler Herausforderungen und zu Nachhaltigkeitsthemen der Agenda 2030 der Vereinten Nationen (→ Nachhaltigkeit). In der globalen Entwicklungsagenda werden solche Maßnahmen der Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) (education for sustainable development) und der Weltbürgerschaftsbildung (global citizenship education) zugeordnet.
Die Erwachsenenbildung in E.- u. S. richtet sich häufig an marginalisierte Bevölkerungsgruppen, die unzureichenden Zugang zum formalen Bildungssystem haben oder eine (berufliche) Weiterbildung und Qualifizierung benötigen. Dabei wird die Anerkennung von non-formalen und informellen Lern- und Arbeitserfahrungen (→ Kompetenzerfassung) immer wichtiger, um Übergänge in das formale Bildungssystem zu ermöglichen, z. B. im Bereich der Berufs- und der Hochschulbildung (→ formale – non-formale – informelle Bildung). Adressatengruppen sind insb.:
- Erwachsene, deren persönlichen bzw. gesellschaftlichen Beteiligungsmöglichkeiten und berufliche Entwicklung aufgrund fehlender Lese-, Schreib- und Rechenkompetenzen gehemmt sind;
- Erwachsene, die im Agrar- und informellen Sektor tätig sind (z. B. Landwirtschaft, Handwerk, Dienstleistungen);
- benachteiligte Bevölkerungsgruppen wie Frauen, Mittellose, ältere Menschen, ethnische Minderheiten und Personen, die aus verschiedenen Gründen diskriminiert werden;
- Mitglieder von Bauern- und anderen Verbänden, Gewerkschaften, Selbstverwaltungsorganen sowie anderen Netzwerken und Interessenvertretungen, die sich für bessere ökonomische Lebensperspektiven, politische Beteiligung und sozialen Wandel einsetzen;
- Menschen, die Anschluss an das formale Bildungssystem suchen oder berufliche Schlüsselqualifikationen erwerben möchten.
Der Auf- und Ausbau nachhaltiger Erwachsenenbildungsangebote trifft in vielen E.- u. S. auf strukturelle Herausforderungen. Dies umfasst insb. politische und finanzielle Rahmenbedingungen, die stärkere → Institutionalisierung von Trägerstrukturen und die notwendige → Professionalisierung von Multiplikatoren und Lehrpersonal. Gemäß dem vierten Weltbericht zur Erwachsenenbildung (GRALE IV) des UNESCO-Instituts für Lebenslanges Lernen (UIL) (→ United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization) investieren mehr als 30 Prozent der berichtenden Länder weniger als 1 Prozent ihrer öffentlichen Bildungsausgaben in die Erwachsenenbildung, knapp die Hälfte der Länder weniger als 2 Prozent. Der Bericht verweist darauf, dass Länder mit geringem und mittlerem Einkommensniveau neue Finanzierungsmechanismen für die Erwachsenenbildung erschließen müssen (→ Finanzierung der Weiterbildung, international). Diese umfassen u. a. Kooperationen zwischen Ministerien, dem öffentlichen und privaten Sektor, Programminitiativen, Stipendien sowie lokale, nationale und internationale → Finanzierungsmodelle (UNESCO, 2018). Insgesamt ist festzustellen, dass sich Entwicklungs- und Schwellenländer zunehmend auf den Weg machen, die Erwachsenenbildung und lebenslanges Lernen mittels Strategien, Politiken und Gesetzesinitiativen besser zu verankern. Oftmals fehlt es jedoch aufgrund chronisch unzureichender Bildungsbudgets an Mitteln, um Strukturen, Aus- und → Fortbildungen für Erwachsenenbildende sowie Lernangebote dauerhaft bereitzustellen.
Zivilgesellschaftliche Akteure spielen eine zentrale Rolle bei dem → Angebot von Erwachsenenbildungsmaßnahmen und dem Auf- und Ausbau von Lernzentren. In vielen Ländern des globalen Südens, insb. in Asien und Subsahara-Afrika, setzen sich sog. Community Learning Centers (CLCs) als lokale Entwicklungszentren durch. Diese stellen bedarfsorientierte Lernangebote bereit und werden zumeist direkt von den Menschen der Gemeinde betrieben, mit Unterstützung von zivilgesellschaftlichen, staatlichen und privaten Akteuren. Für die beständige Präsenz institutionalisierter Lernstrukturen auf lokaler Ebene bedarf es jedoch landesweiter Unterstützungsstrukturen, die finanzielle und materielle Ressourcen zur Verfügung stellen und Fortbildungen von Lehr- und Leitungspersonal ermöglichen.
→ Internationale Zusammenarbeit und überregionale → Netzwerke sind von hoher Bedeutung für fachliche Impulse, Austausch und Förderung der Erwachsenenbildung in E.- u. S. Der → Deutsche Volkshochschul-Verband (DVV) unterstützt mit seinem Institut für Internationale Zusammenarbeit (DVV International) als Fachorganisation die Erwachsenenbildung in weltweit mehr als 30 E.- u. S. Dies erfolgt in Kooperation mit über 200 zivilgesellschaftlichen, staatlichen und wissenschaftlichen Partnern über einen systemischen Mehrebenenansatz. Dieser umfasst die Förderung struktureller Rahmenbedingungen (z. B. Gesetze, Politiken, Strategien) und den Kapazitätsaufbau bei zivilgesellschaftlichen und staatlichen Trägerstrukturen sowie die Einführung innovativer Lernangebote (→ Innovation) für Jugendliche und Erwachsene.
Gemeinsam mit überregionalen Fachverbänden wie dem Internationalen Rat für Erwachsenenbildung (→ International Council for Adult Education, ICAE) und dem Europäischen Verband für Erwachsenenbildung (→ European Association for the Education of Adults, EAEA) setzt sich DVV International auch für die Interessenvertretung und Lobbyarbeit auf nationaler und internationaler Ebene ein. Diese ist auch deshalb dringend erforderlich, um politische Entscheidungsträger vom Mehrwert und Potenzial einer holistisch verstandenen Erwachsenenbildung in E.- u. S. zu überzeugen.
Literatur
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. (Hrsg.). (2022). Lexikon der Entwicklungspolitik. Berlin: BMZ.
DVV International. (Hrsg.). (2017). Berufliche Jugend- und Erwachsenenbildung. Bonn: DVV International.
Gartenschlaeger, U. & Jost, C. (2019). The future of youth and adult education in the development context. In E. Hirsch, C. Jost & G. Waschek (Eds.), 50 years DVV International (pp. 154–159). Bonn: DVV International.
United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization. (Ed.). (2018). Global Education Monitoring Report 2019. Migration, displacement and education. Building bridges, not walls. Paris (FR): UNESCO.
United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization. (2015). UNESCO-Empfehlung über Lernen und Bildung im Erwachsenenalter. Paris (FR): UNESCO.
UNESCO-Institute for Lifelong Learning. (Ed.). (2019). 4th Global Report on Adult Learning and Education: leave no one behind: participation, equity and inclusion. Hamburg: UIL.