Bürgerschaftliches Lernen

Christine Zeuner

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-051

Nicht erst seit der Europäische Rat das Jahr 2005 zum „European Year of Citizenship through Education“ deklarierte, erhielt bürgerschaftliches oder zivilgesellschaftliches Engagement einen politisch anerkannten, höheren Stellenwert. Gewürdigt wurde damit die Rolle der Bürgerinnen und Bürger eines Landes bei der Gestaltung der Demokratie.

Traditionell haben Gesellschaften ein mehr oder weniger ausgeprägtes System von Ehrenamtlichkeit (Ehrenamt), und die Beteiligten lernen durch diese Tätigkeiten. Da das Lernen durch Handeln erfolgt und auf Erfahrung beruht, wurden diese Lernprozesse kaum wahrgenommen. Dass das Thema mittlerweile bildungspraktische wie bildungswissenschaftliche Aufmerksamkeit erfährt, ist auf die zunehmende Relevanz der „Zivilgesellschaft“ als intermediärem Bereich zwischen Markt und Staat zurückzuführen, beruhend auf politischen und ökonomischen Transformationsprozessen (sozia­ler Wandel). Als Reaktion und teilweise Antizipation von Entwicklungen im Rahmen von Modernisierungs-, Globalisierungs- und Ökonomisierungsprozessen von Gesellschaften (Modernisierung), wurde die Rolle des sog. Dritten Sektors gestärkt, also von Non-­Profit-Organisationen (wie Wohlfahrtsverbänden, Gewerkschaften), die subsidiär anstelle des Staats gesellschaftliche Aufgaben übernehmen. Zivilgesellschaftliches Engagement und damit wiederum Lernprozesse der Beteiligten finden sich aber auch auf der Ebene von Vereinen, im Freizeit- (Freizeit) und Sozialbereich, im Rahmen von Engagement für gesellschaftlich marginalisierte Bevölkerungsgruppen, im kommunalen politischen Bereich usw. Es ist folglich ein gesamtgesellschaftliches Phänomen.

Charakteristisch für b. L. – auch „Bürgerlernen“, „Bürgerbildung“, „Bildung für zivilgesellschaftliches Engagement“, „Lernen in kommunalen Projekten“ genannt – ist, dass es zunächst informell im Rahmen ehrenamtlich ausgeübter Tätigkeiten stattfindet und damit weitgehend auf Selbstorganisation beruht (Selbstorganisation – Selbststeuerung –
Selbstlernen
). Die Lernprozesse enthalten Elemente der Selbststeuerung und der informellen Bildung im Sinne neuer Lernkulturen. Sie können aber auch formalisiert werden, wenn Einzelpersonen oder Gruppen Interesse entwickeln, sich in organisierten Lernkontexten gezielt bestimmte Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten anzueignen (formale – non-formale – informelle Bildung).

Während in Deutschland b. L. überwiegend selbstorganisierte Lernformen umfasst, wird in anderen Ländern die Übernahme zivilgesellschaftlicher Verantwortung in der schulischen Bildung vorbereitet, z. B. im Fach Civic Education. Das Lernen durch Engagement (Service Learning) im Rahmen eines Studiums Generale an Colleges oder Universitäten hat, ausgehend von in den USA entwickelten Konzepten, einen hohen Stellenwert, um Studierende für zivilgesellschaftliches Engagement zu sensibilisieren und zu interessieren. Formen aufsuchender Bildungsarbeit stellen dabei eine Verbindung zwischen Wissenschaft, Theorie und Praxis her (Zielgruppenorientierung). Mittlerweile werden entsprechende Ansätze weltweit in Universitäten umgesetzt. Dieses Engagement kann unmittelbar fachbezogen mit Studieninhalten verknüpft oder auch parallel zu ihnen angeboten werden. In jedem Fall werden die Lernprozesse begleitet und unterstützt.

Lerninhalte, die für ehrenamtliches Engagement relevant sind, beziehen sich auf soziale Kompetenzen (wie Kommunikationsfähigkeit, Konfliktmanagement), auf methodisches und prozedurales Wissen (wie Fundraising, Netzwerkmanagement) oder auf inhaltliches Wissen (wie betriebswirtschaftliches Organisationswissen und Personalmanagement). Relevant ist zudem die Entwicklung von politischem Zusammenhangwissen und Urteilsvermögen im Sinne einer kritischen politischen Bildung, da ehrenamtliches Engagement sehr häufig im gesellschaftlichen und politischen Raum auf lokaler und regionaler Ebene stattfindet.

Die Erwachsenenbildung spielt für das b. L. eine doppelte Rolle: Zum einen kann sie im traditionellen Sinn Veranstaltungen für Personen anbieten, die sich zivilgesellschaftlich engagieren. In diesem Rahmen werden Bildungsbedarfe erhoben (Bildungsbedarfsanalyse – Bildungsbedarfserschließung) und Angebote entwickelt. Zum anderen können Einrichtungen lokal und regional in zivilgesellschaftliche Prozesse eingebunden sein und damit selbst zu Akteurinnen werden. In einer solchen Konstellation ist es Aufgabe der Einrichtungen, einerseits die beteiligten Personen bei der Entwicklung ihrer Kompetenzen zu unterstützen und sich andererseits selbst auf Veränderungsprozesse einzulassen und Strukturprobleme zu bewältigen. Die Definition der Inhalte geschieht in einem Aushandlungsprozess zwischen den beteiligten Personen und den Einrichtungen, was zu einer Ent-Hierarchisierung der Lehr-Lern-Prozesse führt und neue Formen der Professionalität des Weiterbildungspersonals (Personal) erfordert.

Literatur

Cnaan, R. A. & Milofsky, C. (Hrsg.). (2018). Handbook of community movements and local organizations in the 21st Century. Cham (CH): Springer.

Simonson, J., Kelle, N., Kausmann, C. & Tesch-Römer, C. (Hrsg.). (2019). Freiwilliges Engagement in Deutschland. Der Deutsche Freiwilligensurvey 2019. Berlin: DZA.

Trumann, J. (2013). Lernen in Bewegung[en]. Politische Partizipation und Bildung in Bürgerinitiativen. Bielefeld: transcript.

Weber, U. (2020). Bürgerschaftliches Engagement und Ehrenamt in der Sozialwirtschaft. Eine Einführung. Wiesbaden: Springer VS.

Zeuner, C. (2020). Community Development and Education – Konzeptionelle Positionierungen zwischen Affirmation und Emanzipation. Hessische Blätter für Volksbildung, 70(2), 22–40.

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