Bildungsökonomie

Jens Ruhose & Stephan Thomsen

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-040

Die B. (auch Bildungsökonomik, englisch economics of education) hat sich als Zweig der Volkswirtschaftslehre um die Mitte des 20. Jh. herausgebildet, wesentlich bestimmt durch die Entwicklung und Verbreitung der Humankapitaltheorie (Humankapital) durch die US-amerikanischen Ökonomen Theodore Schultz, Gary Becker, Yoram Ben-
Porath und Jacob Mincer. Bildungsökonomische Fragestellungen gewannen zur gleichen Zeit in allen entwickelten Ländern im Zuge des sektoralen Wandels (Entstehung der Wissensgesellschaft; Robert E. Lane, Daniel Bell, Peter Drucker) an Gewicht, so auch in Deutschland u. a. in den 1960er Jahren durch Friedrich Edding. Bildungsökonomische Gedanken finden sich jedoch bereits sehr viel früher, z. B. im 17. Jh. bei William Petty in seinen Überlegungen zur Bewertung des Lebens der Bevölkerungsmitglieder anhand der produktiven Fähigkeiten, dann verstärkt im 18. Jh. u. a. bei Philip Cantillon und Adam Smith sowie im 19. Jh. z. B. bei Johann H. von Thünen und insb. William Farr mit der Bestimmung des ökonomischen Werts einer Person innerhalb einer Gesellschaft als die diskontierte Summe ihrer zukünftigen erwarteten Einkünfte.

Die B. beschäftigt sich mit allen bildungsbezogenen ökonomischen Fragestellungen; insb. widmet sie sich der Untersuchung der „Produktion“ verschiedener Arten von Bildung auf individueller und gesellschaftlicher Ebene unter Berücksichtigung eines optimalen Ressourceneinsatzes (Wirtschaftlichkeit). Hierzu ist auch die Betrachtung institutioneller Gegebenheiten und Rahmenbedingungen von hervorgehobener Bedeutung. Die Arten von Bildung beschränken sich nicht allein auf direkt ökonomisch nutzbare Fähigkeiten, Kenntnisse und Fähigkeiten, sondern können auch Werte, Normen, Präferenzen, Persönlichkeitseigenschaften, Zufriedenheit u. a. einschließen. Themenbereiche sind insb. die Bildungsnachfrage im gesamten Lebenszyklus (von der frühkindlichen über die schulische und nachschulische Bildung bis zur Erwachsenen- und Weiterbildung), die Bereitstellung und Struktur der Bildungsangebote (sowohl in Quantität als auch in Qualität) bzw. die Struktur des Bildungssystems (d. h. die institutionelle Gliederung, die Organisation der Bildungsetappen und die Struktur der Bildungsträger) sowie die dazugehörige Finanzierung (u. a. in Form öffentlicher, öffentlich-geförderter oder privater Angebote). Daneben gehören die relative Effizienz unterschiedlicher Bildungsformen sowie die Untersuchung von bildungspolitischen Entscheidungen und von Bildungsreformen zu den zentralen Forschungsfeldern.

Kennzeichnend für die B. ist seit Beginn ein ausgeprägtes Zusammenspiel von theoretischer und empirischer Forschung, das zu einer stetigen methodischen und inhaltlichen Weiterentwicklung beiträgt. Verbunden mit einer hohen politischen Relevanz der Fragestellungen haben die Ergebnisse in bedeutender Weise zur Begründung bildungspolitischer Entscheidungen beigetragen (wissenschaftliche Politikberatung) und die Entwicklung der B. in vielen Ländern der Welt positiv beeinflusst. Die weltweit zunehmende Nachfrage nach evidenzbasierter Politik seit den 1990er und 2000er Jahren hat die nationale und internationale Entwicklung v. a. durch die Erschließung und Verfügbarmachung umfangreicher internationaler, vergleichbarer Datensätze (u. a. Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU), International Adult Literacy Survey (IALS), Trends in International Mathematics and Science Study (TIMSS), Programme for International Student Assessment (PISA) und Programme for the International Assessment of Adult Competencies (PIAAC), Registerdaten zu Bildungs- und Arbeitsmarktergebnissen sowie administrativen Daten zu Schul- und Bildungssystemen) befördert und wichtige Impulse zur Weiterentwicklung geliefert.

In den Wirtschaftswissenschaften ergeben sich zahlreiche Berührungspunkte mit anderen Teildisziplinen, z. B. der Arbeitsmarkt-, Wachstums-, Entwicklungs- und Gesundheitsökonomik, der Personalwirtschaft sowie der Finanzwissenschaft (Controlling). Ein enger Bezug besteht zur Familienökonomik, da die B. wesentliche Grundlagen zur ökonomischen Analyse des Geschlechterrollenverhältnisses, der intergenerationalen Effekte auf Bildungspartizipation und (monetäre und nicht-monetäre) Bildungserträge sowie die Entstehung, Entwicklung und Manifestierung von sozialer Ungleichheit aufgrund von Bildungsunterschieden gelegt hat. Aufgrund des Forschungsgegenstands weist die B. zudem Überschneidungen mit anderen Disziplinen auf, insb. der Erziehungswissenschaft und empirischen Bildungsforschung, der Psychologie und Soziologie. Klar abzugrenzen ist die B. von der ökonomischen Bildung, die die Gesamtheit pädagogischer Ansätze zur individuellen Auseinandersetzung mit den wirtschaftlichen Lebensbedingungen umfasst.

In der bis in die Gegenwart für die B. zentralen Humankapitaltheorie nach Theodore Schultz und Gary Becker wird Bildung als Ergebnis einer individuellen Investitionsentscheidung betrachtet, die auf Basis von Präferenzen sowie Nutzen- und Gewinnerwartungen getroffen wird. So verursacht Bildung auf der einen Seite Kosten der „Bildungsproduktion“ (einschließlich der Opportunitätskosten); auf der anderen Seite führt Bildung zu höherer Produktivität und damit potenziell zu einem höheren Einkommen. Als weitere wichtige Theorie in der B. gilt die Signaling-Theorie nach Michael Spence. Bildungsbezogene Zertifikate und Abschlüsse sind hierin primär ein Signal für das ohnehin vorhandene Leistungsniveau einer Person, d. h. Personen investieren in Bildung, um ihr tatsächliches Produktivitätsniveau am Arbeitsmarkt zu offenbaren.

Die frühe bildungsökonomische Forschung hatte einen Schwerpunkt in der Untersuchung der Bildungsausgaben und ihrer Effizienz. Auf der individuellen Ebene stand dabei die empirische Schätzung von Bildungsrenditen im Fokus, d. h. von Entgeltunterschieden zwischen Individuen in Zusammenhang mit ihrem Bildungsstand. Im Sinne der Bewertung menschlicher Fertigkeiten und Fähigkeiten als Produktionsfaktor der gesellschaftlichen Wohlfahrt wurden darüber hinaus die Beziehungen zwischen gesellschaftlichen und individuellen Erträgen sowie die Bedeutung für das Wirtschaftswachstum analysiert. Ausgehend von empirischen Untersuchen, zunächst für die USA und ausgewählte entwickelte Nationen, liegen in der Zwischenzeit Ergebnisse für eine Vielzahl von Ländern vor (Psacharopoulos & Patrinos, 2018).

Der Großteil der Literatur zu Bildungsrenditen approximiert den individuellen Bildungsstand über die Bildungsjahre oder den höchsten erzielten Bildungsabschluss einer Person. Die Abschätzung der Bildungsrenditen, die in den überwiegenden Fällen positiv sind und Größenordnungen von bis zu zehn Prozent an zusätzlichem Einkommen pro zusätzlichem Bildungsjahr erreichen, dienen u. a. zur Begründung politischer Entscheidungen von Bildungsinvestitionen zur Qualifizierung, zum Erhalt oder auch zur Verhinderung der Entwertung des Humankapitals. Die Erträge (Erträge von Erwachsenen- und Weiterbildung) differieren dabei deutlich zwischen den verschiedenen Bildungsetappen und nehmen über den Zeitverlauf ab: Investitionen in frühen Bildungsphasen sind sehr effizient, während Investitionen im weiteren Bildungsverlauf, z. B. Weiterbildungen des Arbeitgebers (betriebliche Weiterbildung) oder auch Weiterbildungen außerhalb des Arbeitskontextes, bezogen auf die monetären Erträge deutlich weniger effizient sind. Neuere Datensätze und Messkonzepte ermöglichen das Abschätzen von Bildungsrenditen unter Berücksichtigung des tatsächlichen Bestands an Fertigkeiten. Zudem ermöglichen sie die Analyse, wie sich Fähigkeiten im Lebenslauf entwerten. Diese Quantifizierung des Verlusts von Fähigkeiten ist u. a. für die Objektivierung notwendiger Anstrengungen in der Erwachsenen- und Weiterbildung relevant. Die jüngere Forschung bezieht neben monetären Erträgen zunehmend weitere nicht-monetäre Wirkungen in die Betrachtung ein (u. a. in Bezug auf Gesundheit, Lebenszufriedenheit, Fertilität, Migration, Familienentscheidungen und zivilgesellschaftliches Engagement). Hierzu werden Konzepte und Ansätze aus Nachbardisziplinen in die Analyse integriert. Mit diesen Ansätzen wird die zentrale Kritik am ökonomischen Ansatz (materialistische Perspektive der Bildung im Hinblick auf Erträge) durch Einbezug von kultureller und gesellschaftlicher Bedeutung der Bildung explizit berücksichtigt.

Auf der aggregierten Ebene beschäftigt sich die B. insb. mit dem Zusammenhang zwischen Bildung und wirtschaftlicher Entwicklung von Ländern und Regionen. Aus humankapitaltheoretischer Sicht sollte mehr Bildung auch zu einer höheren gesamtgesellschaftlichen Produktivität und damit zu mehr Wohlstand führen. Bildung nimmt einen hohen Stellenwert in der modernen endogenen Wachstumstheorie ein, die einen robusten Zusammenhang zwischen Bildungsstand einer Nation, wirtschaftlicher Entwicklung und Höhe des Wirtschaftswachstums impliziert. Erklärungsansätze beschäftigen sich mit der Rolle der Bildung in der Innovationsforschung sowie bei der Erklärung des technischen Fortschritts. Bildung (und deren Rendite) spielt ebenfalls eine gewichtige Rolle, wenn es darum geht, nationale und globale Ungleichheitsentwicklungen zu verstehen. Alternde Gesellschaften (demografischer Wandel) betonen zudem die Wichtigkeit von Erwachsenen- und Weiterbildung, um älteren Menschen eine längere und produktivere Teilhabe am Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Andernfalls wird eine hohe Belastung der sozialen Systeme prognostiziert (Wohlfahrtsstaat).

Der Bildungsprozess als weiteres Themenfeld der B. wird als „Bildungsproduktion“ verstanden. Im Vordergrund steht die Bestimmung der Wirksamkeit der einzelnen Determinanten auf das Bildungsergebnis. In diesem Bereich haben die Fortschritte der Messung von Wissen und Fertigkeiten (Kompetenz) über internationale, standardisierte Lernstandserhebungen die Erkenntnisse maßgeblich befördert (Bildungsberichterstattung). Der Lernstand einer Person kann auf dieser Grundlage zu verschiedenen Zeitpunkten im Lebenszyklus systematisch durch verschiedene Determinanten erklärt und es können Schlüsselfaktoren sowie für die Bildungsproduktion kritische Lebensphasen identifiziert werden. Wesentliche Determinanten sind die sozioökonomischen Eigenschaften der Person, der familiäre Hintergrund, die Peergroup, die Qualität und Quantität der Bildungsressourcen, die Struktur und Ausgestaltung der Bildungsinstitutionen (insb. Schul-, Hochschul- und Ausbildungssystem). In der Mehrzahl der Untersuchungen zeigt sich der familiäre Hintergrund als wichtigster Faktor bei der Erklärung von Bildungsdisparitäten. Unterschiedliche Bildungsressourcen und Bildungsinstitutionen leisten erst danach einen Erklärungsbeitrag. Geringe Beachtung in der B. finden bisher andere Formen der Bildung, z. B. nicht-formale und insb. nicht-berufsbezogene Erwachsenenbildung.

Ein umfangreicher Forschungsstrang befasst sich mit der Fragestellung, ob größere finanzielle Ressourcen auch zu besseren Lernerfolgen führen. Typische Fragen der B. beziehen sich auf die Effekte von Klassengrößen, den Aufbau des Bildungssystems (Weiterbildungssystem) oder die Rolle der Lehrkraft auf den Lernerfolg. Die B. beschäftigt sich neben Effizienzfragen außerdem mit normativen Fragestellungen hinsichtlich der Bildungsungleichheit und Bildungsgerechtigkeit (Ungleichheit in der Bildungsbeteiligung). So wurde z. B. untersucht, wie sich Schulzweigentscheidungen und -empfehlungen auf die Bildungsungleichheit auswirken.

Insb. im Bereich der Bildungspolitik (Weiterbildungspolitik) beschäftigt sich die B. mit der staatlichen Rolle in der Bereitstellung und der Finanzierung von Bildungsangeboten über den Lebenszyklus (Finanzierung der Weiterbildung; öffentliche Verantwortung). Themen sind die generelle Organisation von Bildungssystemen, die möglichst effiziente Verwendung von staatlichen Ressourcen zur Finanzierung von Bildungseinrichtungen sowie die Messung und Bewertung der Qualität von Lehrkräften. Bildungspolitische Maßnahmen und Bildungsreformen werden mittels moderner quantitativer, kausalanalytischer Verfahren (experimentell und nicht-experimentell) auf ihre Wirksamkeit hin evaluiert, um eine evidenzbasierte Politikberatung zu ermöglichen. In umfangreicher Weise wurden Wirkungsevaluationen bspw. für die berufliche Weiterbildung oder für Re- und Umqualifizierungsmaßnahmen (Umschulung) für Arbeitslose durchgeführt. Ein besonderes Augenmerk liegt auf der Berücksichtigung einer möglichen Selbst­selektion in der Teilnahme (Teilnahme an Erwachsenen- und Weiterbildung): Der Personenkreis, der in Bildung investiert bzw. an Aktivitäten der Erwachsenen- und Weiterbildung teilnimmt, besteht häufig aus Personen, denen die Investition ohnehin leichter fällt. Die in der B. verwendeten Forschungsmethoden erlauben, die kausalen Wirkungen der Maßnahmen und Aktivitäten isoliert von diesem Selektionseffekt zu quantifizieren. Basis dieser Evaluationen sind häufig umfangreiche Datensätze, die auch aus administrativen Quellen der Bildungsträger zusammengestellt werden. Die Erschließung von neuen Datenquellen und ihre Bereitstellung für die Bildungsforschung (im Sinne von Forschungsinfrastrukturen) hat daher einen hohen Stellenwert in der modernen B.

Literatur

Becker, G. S. (1964). Human capital. A theoretical and empirical analysis with special reference to education. New York (US): Columbia University Press.

Bradley, S. & Green, C. (2020). The economics of education: a comprehensive overview (2nd ed.). Amsterdam (NL): Academic Press.

Hanushek, E. A., Machin, S. & Wößmann, L. (2006–2016). Handbook of the economics of education. Amster­dam (NL): Elsevier.

Hanushek, E. A. & Wößmann, L. (2015). The knowledge capital of nations: education and the economics of growth. Cambridge, MA (US): MIT Press.

Lovenheim, M. & Turner, S. (2019). Economics of education. New York (US): MacMillan.

Organisation for Economic Co-operation and Development. (2000–2021). Bildung auf einen Blick: OECD-Indikatoren. Bielefeld: wbv Publikation.

Psacharopoulos, G. & Patrinos, H. A. (2018). Returns to investment in education: a decennial review of the global literature. Education Economics, 26(5), 445–458.

Bildungsmanagement
Bildungspsychologie